Offener Brief an die Integrationsministerin Susanne Raab

Sehr geehrte Frau Ministerin Susanne Raab, 

wie Sie wissen, hat die im Regierungsprogramm vom Jänner 2020 angekündigte „Prüfung der Anerkennung der jenischen Volksgruppe in Österreich“ bislang nicht nur nicht stattgefunden, sie hat zudem noch nicht einmal begonnen. Angesichts der bereits verstrichenen Regierungszeit wird sie wohl ein reines Lippenbekenntnis gewesen sein? 

Wir, der „Verein Jenische in Österreich“, Sprecher:innen der jenischen Volksgruppe in Österreich, haben uns am 30.Jänner 2020 erstmals an Sie gewandt, bekommen aber bis heute, bei Ihnen als zuständiger Ministerin, nicht nur keinen Termin, nein, auch Medienanfragen zum Thema werden nicht beantwortet. 

Besorgt um unsere liberale Demokratie und irritiert über Ihr Verhalten, oder besser gesagt, Nicht-Verhalten, bleibt uns nur mehr dieser Versuch, mit Ihnen in Kontakt zu treten. 

Den Angehörigen einer in Österreich immer besonders diskriminierten Minderheit – den von Ihnen ignorierten Jenischen – signalisieren Sie damit vor allem eines: Nichtanerkennung, umgangssprachlich: Ablehnung. 

Die Nichtanerkennung dieser Volksgruppe impliziert auch die Nichtanerkennung des Unrechts und Leids, das an Jenischen in der Nazi-Diktatur verübt wurde. Die Diskriminierung hat 1945 nicht aufgehört. 

Uns Jenischen hat sich diese Ablehnung eingebrannt, wir müssen bis heute damit leben, immer unter Generalverdacht zu stehen. 

Im März 1938, also gleich nach dem „Anschluss“, verdächtigte man uns als Gesamtgruppe, die „Volksgemeinschaft“ zu zersetzen. Wir, das „zigeunerähnliche Gesindel“, mit unserem „minderwertigen Erbgut“ und dem angeborenen „kriminellen Verhalten“, wurden nicht als „Fremdrassige“, sondern als „Asoziale“ verfolgt. Unsere Familienverbände wurden zerschlagen. Unsere Nachkommen waren unerwünscht. Zwangssterilisierung und Kindesabnahmen standen an der Tagesordnung. Deportation, Konzentrationslager und Vernichtung durch Zwangsarbeit ebenso. 

Unter Generalverdacht standen wir auch nach 1945. In der postnazistischen Gesellschaft der Zweiten Republik erfuhren Jenische weiterhin Missachtung und Ausschluss. Weiter gingen auch die systematischen Abnahmen jenischer Kinder, die umerzogen werden sollten – und auch umerzogen wurden, mittels brutaler körperlicher und sexualisierter Gewalt.

Weil Jenische (wie Großteils auch Sinti und Roma) als „Asoziale“ deportiert wurden, „Asoziale“ aber nicht als Verfolgte des NS-Regimes galten, bekamen Jenische KZ-Überlebende keine Opferrente. Erst, nachdem sich Roma 1993 die Anerkennung als Volksgruppe erkämpft hatten, wurde dies geändert. Doch mit der Auszahlung der endlich formal zuerkannten Opferrenten wurde häufig zu lange gewartet, sodass viele Überlebenden diese nicht mehr erlebt haben. 

Die in der Zweiten Republik abgenommenen jenischen Kinder kämpfen bis heute mit ihren Traumata. Viele von ihnen sind bereits gestorben, die meisten sind in einem Alter, in dem man jederzeit mit ihrem Tod rechnen muss. Das bedeutet also, auch diese Opfer werden es wohl nicht mehr erleben, dass Österreich seine Schuld bekennt. Die Anerkennung der Jenischen als Volksgruppe wäre der erste und wichtigste Schritt einer Veränderung der gesellschaftlichen Ablehnung, die wir Jenischen immer noch erfahren. Diesen Respekt verdienen wir! 

Es gehört nicht zum Allgemeinwissen, dass Diskriminierung und die Zerstörung der jenischen Kultur in der Zweiten Republik bis in die späten 1970er Jahre beinah nahtlos weitergingen. 

Als Integrationsministerin ist diese Bildungslücke aber unverzeihlich. Wir Jenische sehen Sie in der Verantwortung, endlich die Anerkennung der Jenischen als Volksgruppe in Österreich in die Wege zu leiten. 

Gezeichnet: 

Verein Jenische in Österreich 

Europäischer Jenischer Rat 

Jenisches Archiv 

Ergeht an: 

  • Bundesministerin Susanne Raab 
    Bundespräsident Alexander Van der Bellen 
  • Präsident des NR Wolfgang Sobotka 

alle NR-Abgeordnete, die im März 2022 Mitglieder des Vereins Jenische in Österreich getroffen haben: 

  • Nikolaus Berlakovich (ÖVP) 
  • Olga Voglauer (Grüne) 
  • Harald Troch (SPÖ) 
  • Josef Ofner (FPÖ) 
  • Michael Bernhard (NEOS)